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Können wir ohne Ideologien denken?

Können wir ohne Ideologien auskommen oder sind wir zwangsläufig in ideologischem Denken gefangen? Man kann sehr leicht aus der Verwerfung von Ideologien wieder eine Ideologie machen, das wäre zum Beispiel der Fall, wenn man erklären würde, alle Ideologien seien als unstimmige Welterklärungen abzulehnen und jedes Denken führe zwangsläufig zu Irrtümern, deshalb sei es grundsätzlich zu unterlassen. Nun, man kann das zwar so sehen, man muss aber nicht. Statt alle Ideologien abzulehnen, kann man auch in der ideologischen Schatzkiste der Menschheit kramen und sich an dem bunten Nebeneinander freuen, ohne dass man gezwungen wäre, sich für eines der Fundstücke zu entscheiden. Das wäre dann im Sinne von Paul Feyerabends „Everything goes“. Wir kommen nicht ohne Welterklärungsmodelle aus. Aber das muss kein Grund sein, sich mit einem davon zu identifizieren. Ich kann versuchen zu verstehen, wie die Welt aus der Perspektive eines Marxisten, eines Katholiken, eines Buddhisten oder eines Schamane

Die Götter Nietzsches

  Was ist Glaube? Was ist Unglaube? Sind das wirklich sich ausschließende Gegensätze? Ich empfinde beide eher als eine Pendelbewegung meines Geistes, als ein Einatmen und Ausatmen? Ich erinnere mich noch gut, wie ich in einer Zeit, als ich ganz stark zum Atheismus neigte, Nietzsche las: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Ausgerechnet Nietzsche, den ich doch als Bruder im Unglauben sah, infizierte mich mit der Begeisterung für gleich zwei Götter: Apollo und Dionysos. Plötzlich sah ich mich in den Widerstreit dieser beiden Gottheiten hineingezogen. Der Konflikt zwischen dem apollinisch Rationalen und dem dionysisch Rauschhaften, Ekstatischen umschrieb genau das Spannungsfeld in dem ich mich befand. Ich wollte beides und fühlte mich abwechselnd in beiden Zuständen zuhause. Glaubte ich jetzt also an Apollo und Dionysos? Nicht wirklich, aber ich sah beide als wunderbare Modelle zur Veranschaulichung psychologischer Gegebenheiten, und plötzlich bekam der griechische Götterhi

Über angeborene Sichtweisen oder die Schwierigkeit, frei von Dogmen zu sein

  Ein Standardargument, das ständig in der Diskussion zwischen religiös Gläubigen und Nicht-Gläubigen auftaucht ist die Behauptung, alle Menschen kämen als Atheistinnen oder Atheisten zur Welt. Ich betrachte das als eine irreführende These und möchte von einem nicht-religiösen Standpunkt dagegen argumentieren. 1) Zum einen scheint mir hier ein falscher Gebrauch der Logik vorzuliegen: Richtig ist sicherlich, dass wir als Kinder erst einmal keine Vorstellung von dem Gott der monotheistischen Religionen haben, ja, dass uns der Begriff „Gott“ fehlt. Wir haben auch nicht die Idee eines Schöpfers. Die Welt ist einfach da und woher sie kommt das fragen wir uns frühestens, nachdem wir schon ein paar Jahre in ihr verbracht haben. Wir kommen also nicht als Theisten zur Welt, und da Atheismus ja nur die Verneinung des Theismus ist, drängt sich die Vermutung auf, unsere ursprüngliche Sichtweise sei der Atheismus. Entweder wir glauben an Gott oder nicht. Die formale Logik lehrt

Die Eigendynamik des kreativen Prozesses

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  Sehr viele Menschen glauben, sie müssten sich bekennen: zu einer bestimmten Religion oder zum Atheismus. Mir fällt es zunehmend schwer, das nachzuvollziehen, und ich möchte erklären, warum. Vermutlich bin ich in den Augen der meisten Gläubigen ein Atheist, denn ich glaube weder an die Dogmen irgendeiner Religion, noch halte ich irgendeine Schrift für das Wort Gottes. Jedoch erscheint mir auch der Atheismus als ein zu enges Korsett für mein Denken. Auch wenn ich keiner Religion angehöre, einige meiner Erfahrungen passen besser zu einer religiösen Haltung. Ich betrachte das Ganze von meiner Perspektive als Künstler aus. Am besten gelingt mir meine Kunst, je absichtsloser ich an die Sache herangehe, je mehr ich Planung und Kontrolle aufgebe und der spontanen Eingebung vertraue. Die Ergebnisse übertreffen oft bei Weitem das, was ich mit hätte ausdenken können. Kreativ zu sein, heißt für mich, zuzulassen, dass sich etwas ausdrückt, das meine eigene Intelligenz übers

Das Ich, das Selbst, die Welt und der liebe Gott

  Gerade habe ich eine Diskussion in einer Facebook-Gruppe verfolgt, in der jemand Ideale und Moral ablehnt und das Ich zum ausschließlichen Maßstab des Handelns erklärt. Die Ablehnung von Idealen und Moral kann ich gut nachvollziehen. Auch ich kann mit diesen Dingen wenig anfangen. Ich denke aber, dass die Orientierung am Ich und am eigenen Willen nichts anderes als ein Ideal ist – und ein gefährliches obendrein. Was „Ich“ will ist zum großen Teil eine Folge von Konditionierung. Ichs neigen dazu, zu denken, es sei ihr Wille, dass die Hamsterräder, in die sie irgendwann einmal geraten sind, sich immer weiter drehen. Deshalb leben die meisten Menschen weit unter ihren Möglichkeiten, auch – oder gerade – in einer individualistischen Gesellschaft. Um es paradox zu formulieren: Ich bin weit mehr als Ich. Deshalb unterscheiden manche Psychologen zwischen dem Ich und dem Selbst; und Mystiker sprechen von dem göttlichen Funken in uns, den es zu entfachen gilt – indem

Die Bedeutung des Animismus für unser Überleben

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Viele religiöse Menschen halten Religiosität für ein angeborenes menschliches Bedürfnis. Viele Atheisten hingegen sehen in religiösem Glauben eine Folge jahrhundertelanger Indoktrination und betrachten die Freiheit von Glaubenssätzen als den ursprünglichen Zustand, sozusagen den Default-Modus menschlichen Bewusstseins. Dafür spricht z.B. dass wir noch nichts von irgendwelchen Dogmen wissen, wenn wir auf die Welt kommen. Sind wir also in unserer frühsten Lebensphase Atheisten? Wenn man von der ursprünglichen Wortbedeutung ausgeht, ist das sicherlich so. Die Vorstellung eines Gottes entwickelt sich erst nach mehreren Lebensjahren und selten ohne Beeinflussung von außen. Wenn man den Begriff Atheismus aber weiter fasst und darunter die Ablehnung des Glaubens an übersinnliche Phänomene versteht, dann sind wir sicher keine geborenen Atheisten. Ich möchte hier die These aufstellen, dass unser Default-Modus vielmehr der Animismus ist und dass wir uns ers

Wissen und Weisheit aus dem alten China

Für mein Buch "Die Lehren des großen Regens - Eine philosophische Reise ins alte China und zurück" habe ich einige Passagen aus dem Huainanzi , einem chinesischen Klassiker aus dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeit, ins Deutsche übersetzt. Für mich ist das Huainanzi eines der großartigsten Bücher der Weltliteratur - und ich kann überhaupt nicht verstehen, dass es davon immer noch keine deutsche Übersetzung gibt. Es ist als Geschenk für den Kaiser von China geschrieben worden, um ihm alles Wissen an die Hand zu geben, das man braucht, um ein Weltreich zu regieren. Es gibt nicht nur einen hervorragenden Einblick in das Weltbild der damaligen Zeit, sondern ist auch voller weiser Erkenntnisse, die über die Jahrtausende hinweg nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Hier möchte ich drei meiner Lieblingszitate vorstellen: 1.19. "Die Welt ist mein eigen, aber ich gehöre auch der Welt. Wie könnte da eine Kluft zwischen mir und der Welt sein? Um die Welt zu besitzen, woz