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Es werden Posts vom April, 2020 angezeigt.

Klimakrise und persönliche Verantwortung

Immer mal wieder höre ich in Diskussionen über die Klimakrise das Argument, die Deutschen oder die Europäer könnten auch durch noch so radikale Verhaltensänderungen nichts bewirken. Dazu seien wir ein zu kleiner Teil der Weltbevölkerung. Aber wir können uns nicht unter Verweis auf China, die USA oder Indien aus der Verantwortung stehlen. Das ist plumpe Trickserei mit der Statistik. Statistisch gesehen ist der luxemburgische Ausstoß an klimaschädlichen Gasen sicherlich geringer als der deutsche. Wenn aber Bürger*innen Luxemburgs argumentieren würden, ihr Verhalten spiele aufgrund der geringen Größe ihres Landes ohnehin keine Rolle, würden wir das mit gutem Grund nicht gelten lassen. Ein in Luxemburg gefahrener SUV richtet schließlich nicht weniger Schaden an als einer, der ein paar Kilometer weiter, jenseits der Grenze, in Deutschland gefahren wird. Das eigene Verhalten mit dem zu rechtfertigen, was andere tun oder nicht tun, bedeutet, sich in der Masse zu verstecken. Aber wer na

Worte eines alten Philosophen zur aktuellen Situation

Jetzt, da sich viele durch das Herunterfahren der Wirtschaft in ihren Aktivitäten ausgebremst fühlen, erscheint mir ein Gedanke des alten chinesischen Philosophen Zhuangzi unglaublich aktuell, obwohl er schon über zwei Jahrtausende alt ist. Ich verbinde ihn mit der Hoffnung, dass die veränderte Situation vielleicht auch für den einen oder die andere ein Anreiz ist, zumindest einmal probeweise aus dem Hamsterrad auszusteigen.   Natürlich weiß ich auch, dass diese Option nicht allen unmittelbar offen steht. Wer eine Familie zu ernähren hat oder in einer prekären Lage ist, kann sich nicht einfach mal so dafür entscheiden, sich mehr Muße zu gönnen. Und manche Berufsgruppen sind jetzt auch besonders im Stress. Aber es wäre schon viel damit getan, wenn sich die kulturellen Werte Stück für Stück in Richtung einer weniger stressigen Lebensweise verschieben würden. Offensichtlich geht es ja auch mit insgesamt weniger Leistung. Den Menschen täte es gut und der Umwelt erst recht.   „Wenn der

Shutdown und Langeweile

Shutdown, Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbot. Da sitzen wir nun in unserer Wohnung. Und niemand kommt uns besuchen. Eine ungewohnte Situation. Wenn normale Zeiten wären, würde ich mich jetzt wieder regelmäßig mit einem Freund treffen, um Gitarre zu spielen. Schließlich wollten wir ja im Sommer zusammen Straßenmusik machen. Da wäre jetzt die Zeit, wieder anzufangen zu üben. Und am Wochenende käme wie gewohnt eine Freundin unserer WG vorbei, um zusammen zu kochen. Überhaupt haben wir normalerweise viel Besuch. Oder sind unterwegs und treffen Leute. Aber jetzt: Leerlauf. Nicht, dass ich sonst ständig im Stress wäre. Schließlich rede ich schon seit Jahrzehnten davon, wie wichtig Muße ist, und entsprechend lebe ich auch. Ich, der ich normalerweise immer betone, dass Zeit und nicht Geld der wahre Reichtum ist, habe jetzt Zeit im Überfluss – und empfinde das erst einmal nicht unbedingt als Bereicherung. Zum Glück ist das Wetter frühlingshaft. Da kann man schon mal ein paar Stunden auf dem

Die 64 Künste des Kamasutra

Im Kamasutra gibt es eine Aufzählung von 64 Künsten, die man lernen sollte, um in Liebesdingen angenehm zu sein. Wenn man heute so eine Liste erstellen würde, würden wahrscheinlich ein paar dieser Künste wegfallen, andere kämen hinzu. Aber wer sich gerade vom Corona-shut-down ausgebremst fühlt und sich fragt, wohin mit all der vielen freien Zeit, findet hier vielleicht die eine oder andere Anregung: "Gesang, Instrumentalmusik, Tanz, Zeichnen, das Einritzen von Zeichen, Verfertigen mannigfacher Linien aus Reis und Blumen, (kunstgerechtes) Blumenstreuen, Zähne und Gewänder zu färben, Auslegen des Bodens mit Juwelen, Herstellung des Lagers, Wassermusik, das Schlagen mit Wasser, wunderbare Kniffe, die verschiedenen Arten Kränze zu winden, die Anordnung von Diademen und Kronen, Toilettenkünste, die verschiedenen Arten die Ohren zu schmücken, das Mischen von Wohlgerüchen, das Anlegen von Schmucksachen, Zauberei, die Kniffe des Kucumāra, Geschicklichkeit der Hände, die Verfertigung der

Wider den Bekenntniszwang

Eine Anekdote über den Physiker und Nobelpreisträger Niels Bohr berichtet von einem Hufeisen, das über seiner Tür hing. Ein Kollege sprach ihn darauf an. Ob er denn tatsächlich an so etwas glaube? „Nein, natürlich nicht“, soll Bohr geantwortet haben, „aber man hat mir versichert, dass es auch wirkt, wenn man nicht daran glaubt." Ich las diese Anekdote in der Zeit, als ich an einer chinesischen Universität unterrichtete. Viele der Studierenden sahen sich selbst, ganz im Sinne der kommunistischen Erziehung, die sie erfahren hatten, als Atheisten. Das hinderte manche von ihnen nicht daran, vor einer wichtigen Prüfung in den Tempel zu gehen und Räucherstäbchen abzubrennen. So wurde mir klar, dass nicht nur ich solche Widersprüche kenne. Egal für oder gegen welchen Glauben ich mich bewusst entscheide, in meinem Unbewussten wirkt auch das weiter, gegen das ich mich entschieden habe. Ich stamme aus einer katholischen Familie und war als Kind sehr fromm. Als Jugendlicher verwande

Denkformen

Denken wird oft mit begrifflichem Denken gleichgesetzt, mit der kreativen Verkettung von Begriffen. Aber auch andere kreative Verkettungen sind Formen des Denkens. Wenn ich auf der Gitarre improvisiere, verkette ich Töne zu Tonfolgen. Ich befinde mich dann in einem kreativen Prozess, der völlig ohne Begrifflichkeiten auskommt. Mehr noch, wenn ich wirklich in der Musik aufgehe, ist mein begriffliches Denken ausgeschaltet.   Auch bildliche Vorstellungen lassen sich bestens miteinander verketten. Bildliches Denken ist nicht nur bei der Komposition von Gemälden wichtig. Auch mathematische Zusammenhänge lassen sich bildlich oft viel einfacher erfassen als begrifflich – und das nicht nur in der Geometrie.   Auch bei wissenschaftlichen Entdeckungen spielt nicht-begriffliches Denken in Form von visuellen Analogien oft eine Rolle. So entdeckte z.B. Friedrich Kekulé die kreisförmige Struktur von Benzol, nachdem er von einer Schlange geträumt hatte, die sich in den Schwanz biss. Und schließl

Essay: Aufbruch ins Leere

Eigentlich war mein Essay ja gedacht als mein persönlicher Beitrag zur Klimadiskussion. Dass ein Leben mit weniger Konsum und weniger Stress kein Verzicht sein muss, und dass wir mit weniger Verbrauch und folglich auch weniger Produktion besser leben könnten. Es sollte ein Plädoyer für mehr Muße sein. Und für die Langeweile, die ein Tor zu kreativer Begeisterung sein kann. Und ich wollte zeigen, dass Leere – zum Beispiel im Terminkalender – oft auch Freiheit bedeutet. Jetzt ist es gerade einmal ein paar Wochen her, seit mein Essay erschienen ist, und ich finde mich in einer völlig anderen Welt wieder. Die Leere bricht aus. Das Corona-Virus fegt Straßen und Regale leer, und viele Menschen sind zur Muße gezwungen und langweilen sich. So habe ich mir das mit der Leere natürlich nicht vorgestellt. Und ich bin selber fassungslos darüber, wie aktuell mein Essay plötzlich geworden ist. Hier der Link zum Probelesen: https://www.bod.de/buchshop/aufbruch-ins-leere-jupp-hartmann-9783750418363