Können wir ohne Ideologien denken?

Können wir ohne Ideologien auskommen oder sind wir zwangsläufig in ideologischem Denken gefangen? Man kann sehr leicht aus der Verwerfung von Ideologien wieder eine Ideologie machen, das wäre zum Beispiel der Fall, wenn man erklären würde, alle Ideologien seien als unstimmige Welterklärungen abzulehnen und jedes Denken führe zwangsläufig zu Irrtümern, deshalb sei es grundsätzlich zu unterlassen. Nun, man kann das zwar so sehen, man muss aber nicht. Statt alle Ideologien abzulehnen, kann man auch in der ideologischen Schatzkiste der Menschheit kramen und sich an dem bunten Nebeneinander freuen, ohne dass man gezwungen wäre, sich für eines der Fundstücke zu entscheiden. Das wäre dann im Sinne von Paul Feyerabends „Everything goes“.

Wir kommen nicht ohne Welterklärungsmodelle aus. Aber das muss kein Grund sein, sich mit einem davon zu identifizieren. Ich kann versuchen zu verstehen, wie die Welt aus der Perspektive eines Marxisten, eines Katholiken, eines Buddhisten oder eines Schamanen aussieht ohne selbst das eine oder andere zu werden. Alle diese unterschiedlichen Betrachtungsweisen haben sich entwickelt, weil sie mehr oder weniger zweckmäßig waren. Zweckmäßigkeit ist aber eine andere Kategorie als Wahrheit. Ein schamanistischer Ansatz mag aus aufgeklärt naturwissenschaftlicher Sicht belächelnswert erscheinen, aber wenn man ohne moderne Technik in einem Regenwald überleben will, kann er sich als das sinnvollere Modell erweisen. Von einer konfuzianischen Perspektive aus betrachtet ist der christlich-jüdisch-islamische Monotheismus vielleicht eine unvernünftige Vorstellung. Konfuzius lehnte schließlich aus Vernunftgründen jede Spekulation über Übersinnliches ab. Aber dass sich die modernen Wissenschaften in Europa entwickelt haben, verdankt sich möglicherweise auch dem Gedanken, die Natur sei nach dem Willen eines allmächtigen Schöpfers gestaltet und darum gebe es in ihr seine Handschrift zu entdecken. Der Glaube an einen rationalen Schöpfergott erweist sich damit zwar durchaus nicht als wahr, aber er hat doch eine Tür geöffnet, die man sonst vielleicht nicht gefunden hätte.

Giordano Bruno, der von der Kirche als Häretiker verbrannt wurde, ist für manche Atheisten zu einer Art Heiligenfigur avanciert. Dass er schon vor fünfhundert Jahren die Vision eines unendlichen Weltalls hatte, erscheint im Nachhinein als revolutionäre Erkenntnis. Allerdings ist er nicht durch astronomische Beobachtungen zu diesem Schluss gekommen, sondern anhand theologischer Spekulationen, die wiederum auf den Mystiker Nikolaus von Kues zurückgehen. Auch in der jüngeren Vergangenheit finden sich religiös inspirierte wissenschaftliche Entdeckungen. Dass ausgerechnet ein katholischer Priester, Georges Lemaître, die Urknalltheorie entwickelt hat, könnte auch damit zusammenhängen, dass die Vorstellung eines Schöpfungsaktes einen zeitlichen Beginn des Universums impliziert.

Daraus zu folgern, die Religion hätte recht – weil sie zu belastbaren Erkenntnissen geführt hat – wäre nun wieder zu kurz gegriffen. Es gibt gute Gründe dafür, dass die Naturwissenschaften von ihrem Ansatz her atheistisch sind, d.h., dass sie die beobachtbaren Phänomene erklären, ohne das Wirken höherer Mächte anzunehmen. Aber offensichtlich erweisen sich auch Erklärungsmuster, die aus einer bestimmten Perspektive durchaus absurd erscheinen, in anderen Zusammenhängen wiederum als sehr effizient. Wenn man also, statt zu fragen, wer recht hat, ganz pragmatisch an die Sache herangeht, dann zeigt sich die Nützlichkeit einander widersprechender Ideologien. Diese können zwar nicht alle gleichzeitig richtig sein, aber sie können unserer Erkenntnis jeweils unterschiedliche Türen öffnen oder verschließen. Es ist ein bisschen so, wie mit unterschiedlichen Computer-Betriebssystemen. Das eine eignet sich besser für diese, das andere besser für jene Anwendung, aber es gibt nicht das eine wahre Betriebssystem. (Auch wenn es mir als Ubuntu-Fan nicht leicht fällt, das zuzugeben.)

Wir kommen also nicht ohne Ideologien aus. Aber wir können polyideologisch denken. Das heißt nun wieder nicht alle Ideologien seien gleich gut oder schlecht. Jede hat andere Vor- und Nachteile und das eine oder andere überwiegt mehr oder weniger stark. Wir können uns problemlos verschiedener Welterklärungsmodelle bedienen, ohne Zwang, uns mit einem davon zu identifizieren. Wir können auf Ideologien zurückgreifen ohne selbst ideologisch zu werden. Auf halbem Weg zwischen Synkretismus und Agnostizismus bieten sich viele überraschende Ausblicke. Um sie zu entdecken müssen wir aber beweglich bleiben und manchmal mehr in die eine, dann wieder in die andere Richtung gehen.


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