Über angeborene Sichtweisen oder die Schwierigkeit, frei von Dogmen zu sein

 

Ein Standardargument, das ständig in der Diskussion zwischen religiös Gläubigen und Nicht-Gläubigen auftaucht ist die Behauptung, alle Menschen kämen als Atheistinnen oder Atheisten zur Welt. Ich betrachte das als eine irreführende These und möchte von einem nicht-religiösen Standpunkt dagegen argumentieren.

1) Zum einen scheint mir hier ein falscher Gebrauch der Logik vorzuliegen:

Richtig ist sicherlich, dass wir als Kinder erst einmal keine Vorstellung von dem Gott der monotheistischen Religionen haben, ja, dass uns der Begriff „Gott“ fehlt. Wir haben auch nicht die Idee eines Schöpfers. Die Welt ist einfach da und woher sie kommt das fragen wir uns frühestens, nachdem wir schon ein paar Jahre in ihr verbracht haben. Wir kommen also nicht als Theisten zur Welt, und da Atheismus ja nur die Verneinung des Theismus ist, drängt sich die Vermutung auf, unsere ursprüngliche Sichtweise sei der Atheismus. Entweder wir glauben an Gott oder nicht. Die formale Logik lehrt uns, dass nicht beides gleichzeitig zutreffen kann. Wenn ich kein Theist bin, bin ich also Atheist. Oder?

Das Problem dabei liegt darin, dass die negative Bezugnahme auf etwas nur innerhalb eines bestimmten Bezugsrahmens angebracht ist. Etwas darüber zu definieren, dass es eine Eigenschaft nicht hat, ist nur dann sinnvoll, wenn der Besitz dieser Eigenschaft eine mögliche Alternative ist. Der Mond hat keinen Sex, trotzdem käme kaum jemand auf die Idee, den Mond als asexuell zu bezeichnen. Diese Zuschreibung ergibt im Bezug auf Himmelskörper so wenig Sinn wie Atheismus in Bezug auf Neugeborene.

Wir kommen also weder als Theisten, noch als Atheisten zur Welt. Der Begriff "Atheismus" ist abgeleitet von "Theismus". Er ergibt nur Sinn in Bezug auf seinen Gegensatz. Aber das Gegensatzpaar existiert für Neugeborene nicht, da es begriffliches Denken voraussetzt.

2) Zum anderen möchte ich evolutionstheoretische Einwände anführen:

Ein Kind kommt nicht mit einem bestimmten Glauben zur Welt und wenn es eine bestimmte Religion annimmt, dann liegt das an der Beeinflussung von außen. Ich denke, so weit stimme ich der religionskritischen Betrachtungsweise zu.

Aber unser Gehirn ist auch keine Tabula rasa, die nach und nach mit Informationen gefüllt wird. Einiges ist vorstrukturiert, und das ist evolutionsbiologisch bedingt (z.B. der kindliche Animismus). Unser Denken hat sich in einer Form entwickelt, die bedingt, dass wir leicht zu Fehleinschätzungen neigen. Wir versuchen nämlich, aus unseren konkreten Wahrnehmungen übergeordnete Prinzipien abzuleiten. Das ermöglicht uns überhaupt erst abstraktes Denken und somit auch die Erkenntnis von Naturgesetzen. Wenn wir nun für unsere übergeordneten Prinzipien wieder nach übergeordneten Prinzipien suchen, dann kommen wir schließlich zur Annahme absoluter Prinzipien. Dabei werden unsere Begrifflichkeiten immer abstrakter, und da jede Abstraktion auch ein Schritt weg von der konkret erfahrenen Wirklichkeit ist, schleichen sich in unsere Welterklärungen, je komplexer sie werden auch immer mehr Fehler ein. So landen wir möglicherweise auch bei religiösen Dogmen.

Diese finde ich oft genauso befremdlich wie viele, die Religion ablehnen. Das Problem ist nur, dass unsere Tendenz, absolute Prinzipien anzunehmen, nicht nur zu religiösen Weltbildern führt, sondern auch zu jeder Menge Ideologien – und hier sind Atheistinnen und Atheisten genauso gefährdet wie Gläubige. Ob es nun die marxistische Vorstellung eines Ziels der Geschichte ist, oder das neoliberale Dogma von der Unfehlbarkeit des Marktes oder ob wir in der Vernunft statt eines nützlichen Werkzeugs, ein Mittel zu Erkenntnis absoluter Wahrheit sehen, wir neigen dazu, uns Götter zu schaffen, auch wenn wir diese nicht mehr so nennen.

Was nützt es uns aber, wenn wir ein Idol durch ein anderes austauschen und statt Christen oder Muslimen nun Nationalisten, Marktradikale oder Fortschrittsfanatiker werden? Um uns wirklich von dem Glauben an absolute Prinzipien zu befreien, müssen wir begreifen, wie unser begriffliches Denken funktioniert und seine Grenzen, vor allem aber seine Fallstricke erkennen. Dazu gehört auch die Einsicht, dass sich Religionen Denkstrukturen verdanken, die auch bei Nicht-Religiösen vorhanden sind. Diese Strukturen sind in uns angelegt, wir werden eben nicht als Tabula rasa geboren.

Unser abstraktes Denken führt uns nicht nur zu genialen Erkenntnissen, denen wir vieles verdanken, sondern auch zu Irrtümern, zu denen kein anderes Lebewesen in der Lage wäre. Irren ist menschlich, typisch menschlich. Davor sind auch Atheistinnen und Atheisten nicht gefeit. Wer einem bestimmten Irrtum entgeht, muss nicht unbedingt näher an der Wahrheit sein. (Bildlich gesprochen: Die Gefahr von einem Auto überfahren zu werden ist am größten, wenn man gerade einem erfolgreich ausgewichen ist.) Die Freiheit von Glaubenssätzen ist uns nicht von vorne herein gegeben. Wir müssen sie uns mühsam erarbeiten.

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