Allerlei

Die Texte auf dieser Seite sind zumeist aus Diskussionsbeiträgen entstanden, die ich in Internetforen gepostet habe. Viele davon sind älter als dieser Blog, sodass ich sie nicht als aktuelle Posts veröffentlichen wollte. Da sie aber thematisch zum Blog passen, habe ich sie auf dieser Seite gesammelt.


1.
Wenn ich eine Absicht habe, kann ich den Dingen nicht unvoreingenommen begegnen. Ich beurteile sie danach, ob sie meiner Absicht entgegenkommen oder ob sie hinderlich sind. Meine Perspektive ist eingeengt. Einem Holzhändler geht leicht der Blick auf die Schönheit eines Waldes verloren. Je geringer hingegen meine Ambitionen sind, umso leichter fällt es mir, die Dinge von vielen Seiten her wahrzunehmen. Ich kann mich dann auch besser auf eine Situation einzustellen und angemessen reagieren. Ich kann Gelegenheiten sofort ergreifen, weil ich nicht durch andere Pläne gebunden bin. Absichtslosigkeit erleichtert Spontaneität.


2.
Jedes Gefühl färbt unsere Wahrnehmung ein - also das was wir für wahr nehmen. Da sich unsere Gefühle ändern, ändern sich auch unsere Wahrheiten. Bei einem Wutausbruch geht uns der Blick auf die Relativität dieser Wahrheiten verloren. Statt des ganzen Farbspektrums sehen wir dann nur noch rot. Besser ist es, Gefühle sich gar nicht erst so weit anstauen zu lassen, bis es zum Ausbruch kommt, sondern ihnen schon dann Raum zu lassen, wenn sie sich zeigen.


3.
Wiederholungen sind oft wichtig für Lernprozesse. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil vieler Übungen. Sie dienen dazu, bestimmte Abläufe vom Bewussten ins Unbewusste zu verlagern. In Umkehrung zu Freuds Satz gilt dabei: Wo Ich war, soll Es werden.


4.
Die Trennung zwischen dem bewussten Ich und der unbewussten Psyche ist ein Erklärungsmodell, das sich in der Psychologie als sehr nützlich erwiesen hat. Es hat zu einem tieferen Verständnis der menschlichen Psyche beigetragen. Aber wie jedes Modell ist es nicht deckungsgleich mit der Wirklichkeit. Von daher kann es leicht zu Irrtümern verleiten, z.B. dazu, dass es zu einer Verwechselung zwischen dem Ich und dem Bewusstsein kommt. Ich möchte das an einem Beispiel erläutern: Wenn ich Gitarre spielen lerne, dann ist mein Bewusstsein auf die Motorik konzentriert. Ich bin damit beschäftigt, die Finger der linken Hand auf die richtigen Saiten im jeweils richtigen Bund zu setzen und gleichzeitig mit der rechten Hand die passenden Saiten zu zupfen. Irgendwann muss ich nicht mehr darüber nachdenken. Ich sehe auf einem Notenblatt eine bestimmte Akkordfolge und überlasse es meinen Fingern, von selbst das Richtige zu tun. Mein Bewusstsein ist nicht mehr bei der Motorik, sondern beim Notenblatt. Schließlich kann ich auch die Akkordfolge spielen, ohne darüber nachzudenken. Ich spiele das Stück mit anderen zusammen und mein Bewusstsein ist jetzt gar nicht mehr bei mir und dem was ich tue, sondern bei dem gemeinsamen Spiel. Das kann so weit gehen, dass ich außer mir (!) gerate. Ich gehe so in der Musik auf, dass ich das Gefühl habe, dass nicht ich spiele, sondern dass ES spielt. Mein Bewusstsein geht in den Klängen auf, also in etwas, das definitiv nicht ich bin. Mich selbst vergesse ich dabei. Ja, es sind gerade solche Augenblicke, in denen mein Bewusstsein in etwas ganz anderem aufgeht, die ich später als intensiv gelebte Zeit erinnere. Aber wenn mich jemand fragt, was ich heute gemacht habe, sage ich nicht, wo ich mit meinem Bewusstsein war, sondern ich sage, dass ich Gitarre gespielt habe. Das kommt daher, dass ich den Unterschied zwischen mir und meinem Bewusstsein durchaus kenne.


5.
Der Sinn des Lebens ist, zu leben. Dass es darüber hinaus keinen vorgegebenen Sinns des Lebens gibt, dafür gibt es ein Wort: Freiheit.


6.
Kunst ist nicht Mathematik. Was wir in der Musik als harmonisch empfinden ist zwar mathematisch beschreibbar. So harmonieren zum Beispiel Töne gut miteinander, deren Frequenzen im Verhältnis 1:2 (Oktave), 2:3 (Quinte) oder 3:4 (Quarte) zueinander schwingen. Das liegt daran, dass sich die Schallwellen dann relativ häufig an den Punkten ihrer jeweils maximalen oder minimalen Auslenkung treffen - im Gegensatz etwa zu Frequenzen mit einem Verhältnis von 15:16.

Auch in der bildenden Kunst gibt es bestimmte Proportionen, die als harmonisch wahrgenommen werden, sodass z.B. in der Malerei häufig die Zahlenverhältnisse des Goldenen Schnitts zu finden sind.

Aber Kunst ist bei Weitem nicht nur die Anwendung von Proportionen. Das harmonische Verhältnis der Töne und die (ebenfalls mathematisch beschreibbaren) Rhythmen bilden das "Material", aus dem Musik gemacht ist. Aber Musik ist mehr als dieses Material, ebenso wie ein literarischer Text mehr ist als eine Aneinanderreihung von Buchstaben und Satzzeichen oder ebenso wie ein Saxophon mehr ist als vier Kilo Messing.

Im Gegensatz zur Mathematik ist Kunst mit rationalem Denken nicht zu erfassen. Genau deshalb aber kann Kunst unseren Horizont über das rationale Denken hinaus erweitern.


7.
„Determinismus“, „Schicksal“, „freier Wille“ etc. das sind Gedankenkonstruktionen, die sich Menschen ausgedacht haben, um bestimmte Dinge besser erklären zu können. Solche Modelle sind bis zu einem gewissen Grad nützlich und sinnvoll, aber als allgemeine Welterklärungen taugen sie nicht. Es ist wie in der Physik. Man kann die Bestandteile der Materie als Teilchen oder als Wellen beschreiben. Beide Modelle sind sinnvoll und jeweils nötig, um bestimmte Phänomene zu erklären. Aber unser Alltagsverstand hat Probleme, beide Sichtweisen zusammenzubringen. Genauso hat unser Verstand Probleme, Schicksal und freien Willen zusammenzubringen, obwohl wir doch Tag für Tag für beides Beispiele finden. Dahinter steckt das generelle Problem, dass unsere Sprache zu grob ist, um die Wirklichkeit zu erfassen. Wir können bestenfalls Theorien entwickeln. Wir sollten unsere Theorien über die Welt aber niemals mit der Welt verwechseln. Wenn wir uns auf die Wirklichkeit einlassen, dann erfahren wir immer wieder die Grenzen unserer Gedankenkonstruktionen.


8.
Allem Determinismus zum Trotz: Dass wir frei sind, ist eine Erfahrung, die wir machen, wenn wir uns trauen, frei zu sein.


9.
Religionen entsprechen einer tief in vielen Menschen verwurzelten Sehnsucht. Sie können Wege weisen und tiefe Erfahrungen ermöglichen. Deswegen sind Religionen so mächtig. Gerade das ist aber auch der Grund, warum es immer wieder Menschen gibt, die Religion missbrauchen um ihre Machtgier zu befriedigen oder Hassgefühle auszuleben. Sie nutzen die Religion als Werkzeug für ihre Interessen. Das ist allerdings überhaupt kein Argument gegen Religionen. Aber es ist ein Grund, religiösen Führern nicht blind zu folgen, sondern ihre Worte an ethischen Maßstäben zu messen. Für religiöse Menschen sollte gelten: Wenn Religion zu Handlungen auffordert, die der Ethik widersprechen, dann handelt es sich um eine falsche Auslegung der Religion.


10.
Der Gegensatz zwischen Idealismus und Materialismus erscheint mir ähnlich wie der Teilchen-Welle-Dualismus in der Physik. Beide Vorstellungen schließen sich nach unserer Alltagslogik gegenseitig aus, und doch braucht man beide, um bestimmte Phänomene zu erklären.


11.
Der materialistische Ansatz, die Entwicklung des Universums aus der Eigendynamik der Materie heraus zu erklären hat im 19. und 20. Jahrhundert die Wissenschaft enorm beflügelt. Es ist auch fraglich, ob sich ohne die Entzauberung der Welt, die mit der zunehmenden Akzeptanz materialistischer Gedanken Hand in Hand ging, die modernen Wissenschaften überhaupt entwickelt hätten. Andererseits stößt man bei der Betrachtung geistiger Phänomene, wie zum Beispiel der Intuition, mit materialistischen Erklärungsmustern sehr schnell an Grenzen. Ich denke, man muss aus Materialismus und Idealismus keine dogmatischen Weltbilder ableiten. Beides sind Modelle, deren man sich bedienen kann. Als Künstler bin ich bekennender Idealist, während ich in den Naturwissenschaften materialistischen Vorstellungen zuneige.


12.
Warum versucht ein Atheist einen Gläubigen zu überzeugen? Dass ein Gläubiger einen Atheisten zu überzeugen versucht, das ist leichter zu verstehen, vor allem wenn der Gläubige daran glaubt, das man nach dem Tod für den Glauben belohnt und für den Unglauben bestraft wird. Dann hängt vom Glauben unendlich viel ab. Es geht dann um nichts weniger als um die Rettung der Seele des Ungläubigen.

Aber warum wird ein Atheist missionarisch? Wenn es keinen Gott gibt, dann ist es nach dem Tod egal, woran man geglaubt hat, und im Leben hat es ein Atheist auch nicht unbedingt besser als ein Gläubiger. Warum gibt es also nicht nur religiöse, sondern auch atheistische Eiferer?

Ein Blick in die Geschichte, aber auch in manche andere Länder, liefert rasch eine Antwort. Religion geht oft mit Unterdrückung einher. Noch vor ein paar Jahrhunderten wurden auch bei uns Menschen getötet, weil sie religiösen Lehrmeinungen widersprachen. Dazu mussten sie nicht einmal Atheisten sein. Eine abweichende Interpretation der Glaubensinhalte konnte schon genügen, um auf dem Scheiterhaufen zu landen.

Somit lässt sich der Atheismus, der seit dem Zeitalter der Aufklärung in Europa mehr und mehr Fuß fasste, als Ausdruck des Strebens nach Freiheit betrachten. Sogar, dass in unserer säkularen Gesellschaft die religiösen Institutionen sanfter geworden sind, hängt möglicherweise damit zusammen, dass das Erstarken des Atheismus ihre Macht immer weiter eingeschränkt hat.

Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum Atheisten oft missionarisch sind. In Europa hat sich der Atheismus aus einer christlichen Gesellschaft heraus entwickelt. Zur Tradition der monotheistischen Religionen aber gehört der Kampf gegen alle anderen Götter. Das Christentum pflegte über Jahrhunderte hinweg einen leidenschaftlichen Unglauben gegenüber allen anderen Religionen. Diese Haltung haben viele westliche Atheisten von ihren christlichen Vorfahren geerbt. Nur dass die Atheisten im Vergleich zu den Christen noch einen weiteren Gott zu den falschen Göttern zählen.

So kann es nicht verwundern, dass auch der Atheismus zuweilen missionarische Formen annimmt. Das ist historisch bedingt, müsste aber nicht so sein. Dass es auch anders geht, habe ich in Ostasien erlebt. Dort ist die Kultur nicht monotheistisch geprägt, und der missionarische Eifer hat weniger Tradition. Dort ist es auch weniger üblich, Menschen nach ihrem Glauben zu beurteilen. Vielleicht kommt es ja auch bei uns mit der Zeit zu mehr Lockerheit in Glaubensfragen, und wir beginnen, eine Vielfalt unterschiedlicher Vorstellungen als Bereicherung zu empfinden, statt uns gegenseitig den Glauben oder Unglauben austreiben zu wollen.


13.
Als Jugendlicher war ich bekennender Atheist, genauer: Marxist. Irgendwann wurde mir dann klar, dass der Marxismus von Hegel eine Menge religiösen Ballast übernommen hatte z.B. die Idee einer auf ein Ziel hinauslaufenden Geschichte, was ja ohne Annahme eines göttlichen Heilsplans eine ziemlich absurde Vorstellung ist. Was mich erschreckte, war nicht nur meine eigene Anfälligkeit für so einen naiven Geschichtsglauben, sondern auch die Erkenntnis, dass Atheisten besonders empfänglich für solche Dinge sind. Seitdem entdecke ich in vermeintlich atheistischen Gedankenkonstrukten immer wieder den religiösen Pferdefuß. Offensichtlich fällt es Menschen schwer, nicht überall höhere Mächte am Werk zu sehen und sich diesen zu unterwerfen. Was für religiöse Menschen der göttliche Wille ist, das ist für manche Atheisten die evolutionsbedingte genetische Programmierung, für andere sind es gar die Gesetze des Marktes. Diese Erklärungsmuster haben zwar in einem bestimmten Rahmen ihre Berechtigung, aber sobald man sie absolut setzt, befindet man sich auf dem Terrain des quasi-religiösen Dogmatismus. Kurz: Auch Atheisten laufen Gefahr allen möglichen Göttern aufzusitzen. Nun ist die Frage: Wie schafft man es, sich keine Götter zu konstruieren? Ich vermute, in diesem Spiel haben die Mystiker einen Heimvorteil, weil für sie Gottes Wirklichkeit unerkennbar ist. Von daher sind sie nicht auf der Suche nach etwas anderem Absoluten.


14.
Ungläubige sind meist nicht weniger gläubig als Gläubige. Auch sie sind anfällig für die Indoktrination mit Ideologien: Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Wirtschaftsliberalismus, Sozialismus, Biologismus und und und. Auch diese Ideologien bewirken eine Einschränkung der Erkenntnisgewinnung. Dass Atheisten weniger anfällig für solche Formen des Dogmatismus seien, dafür gibt es leider keine Anzeichen. Einigen dieser Ideologien gegenüber sind religiöse Menschen sogar eher immun als Atheisten. Auch Atheisten zweifeln eben nicht an allem. Wäre auch ganz schön anstrengend. Irren ist nun einmal menschlich und jeder Mensch hat auf dem Gebiet des Irrtums seine eigenen Spezialgebiete.


15.
Da sitze ich nun tatsächlich zwischen den Stühlen. Einerseits habe ich großen Respekt vor den Religionen - vor allem in ihren mystischen Ausprägungen. Ich betrachte die religiösen Überlieferungen als ein äußerst wertvolles Erbe der Menschheit. Vor allem in unserer auf Konkurrenzkampf und Shopping ausgerichteten materialistischen Welt werfen sie wichtige Fragen auf und verweisen auf die spirituelle Dimension des Lebens. Andererseits kann der Blick in die Geschichte der Religionen einen aber auch das Gruseln lehren. Die Geschichte der Religionen ist auch die Geschichte ihrer Instrumentalisierung, vor allem zu politischen Zwecken. Da ist mir ein leidenschaftlicher Atheismus nicht nur verständlich, sondern erst einmal auch sympathisch. Ich bin davon überzeugt, dass der Atheismus, der sich in den letzten Jahrhunderten in Europa ausgebreitet hat, einen wesentlichen Anteil daran hat, dass wir heute freier atmen können. Meiner Ansicht nach tut der atheistische Stachel den Religionen letztendlich gut. Deshalb verspreche ich mir viel von einer offenen und entspannten Diskussion zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Es ist ohnehin eine der großen Aufgaben, vor denen die Menschheit steht, das verstärkte Aufeinandertreffen unterschiedlichster Glaubens- und Denkformen, das wir im Zuge der Globalisierung erleben, konstruktiv zu gestalten. Da können wir doch schon mal im Kleinen damit anfangen.


16.
Schon rein etymologisch betrachtet bezieht sich A-theismus auf Theismus, ist also eine bewusste Positionierung gegen eine andere Position. Ich denke, man kann nicht davon ausgehen, der Atheismus sei sozusagen der Naturzustand des Bewusstseins und der Glaube an Götter eine willkürliche Entscheidung dagegen. Ich betrachte den Atheismus eher als eine hohe intellektuelle Leistung, die einiges voraussetzt. Ich möchte erklären, warum ich das so sehe. Kinder sind noch nicht, oder doch erst ab einem bestimmten Alter, in der Lage, rationale Erklärungsmuster für die Welt, die sie erleben, zu entwickeln. Ihr Weltbild ist oft magisch: Spielsachen, Möbelstücke und technische Geräte sind für sie belebt, selbst erfundene Phantasiegestalten können für sie durchaus real sein, und in der Dunkelheit fürchten sie allerlei Monster. Ich habe das oft bei kleinen Kindern beobachtet und kenne das auch aus meiner eigenen Kindheit. Die Entzauberung der Welt, die mit dem Älterwerden stattfindet, setzt intellektuelle Fähigkeiten voraus, die sich erst einmal entwickeln müssen. Diese Entzauberung betreiben im Übrigen auch die monotheistischen Religionen, die (zumindest in ihrer konsequenten Form) den Glauben an übersinnliche Erscheinungen ausdünnen und auf das Wirken eines einzigen Gottes reduzieren. Alle nach dieser Vorstellung falschen Götter werden abgelehnt. Der Atheismus ist letztendlich die konsequente Weiterentwicklung dieses Prozesses, indem er auch den Glauben an den verbliebenen Gott verwirft. Ich glaube, belegen zu können, dass der moderne Atheismus, der sich in der europäischen Aufklärung allmählich herausentwickelt hat, Wurzeln hat, die in die christliche Mystik des Mittelalters zurückreichen. Diesen Übergang kann man z.B. bei Giordano Bruno beobachten, einem christlichen Mystiker, der zum Namenspatron einer atheistischen Vereinigung wurde. Dass der Atheismus der sich seit dem 18. Jahrhundert immer schneller ausbreitete, religiöse Wurzeln hat, sieht man übrigens auch an den religiösen Rudimenten, die sich in einigen seiner Formen finden. So übernahmen etwa die Marxisten die religiöse Vorstellung eines Ziels der Geschichte aus der Dialektik Hegels. Auch der neoliberale Glaube an die Unfehlbarkeit des Marktes trägt durchaus religiöse Züge. Dass ein echter Atheismus so schwer möglich ist, liegt wohl auch an der Tendenz unseres Denkens, irgendwie immer doch nach absoluten Wahrheiten zu suchen, nach Fixpunkten, von denen wir sicher ausgehen können. Auch wenn wir nicht an Götter glauben, neigen wir dazu, uns Götter zu schaffen, die wir dann freilich nicht so nennen.
 

17.

Dass zwei sich widersprechende Aussagen nicht gleichzeitig richtig sein können, gilt auf jeden Fall in den Naturwissenschaften, solange man mit genau definierten Begriffen und messbaren Größen arbeitet. Aber selbst dort benutzt man Modelle, sobald man an die Grenzen des Wissens stößt (die sich natürlich im Laufe der Zeit verschieben). Ein Modell hilft, Beobachtungen einzuordnen und Dinge zu erklären (z.B. das Bohrsche Atommodell). Aber weil Modelle nur vereinfachte Annäherungen an die Wirklichkeit sind, können sie einander widersprechen, ohne dass dadurch die Gesetze der Logik außer Kraft gesetzt würden (siehe die Beschreibung des Lichts als Teilchen und als Welle).

In noch stärkerem Maße gilt dies in den Geisteswissenschaften, wo der Forschungsgegenstand in der Regel keine exakten Messungen zulässt und man bestenfalls mit statistischen Wahrscheinlichkeiten operiert. Hier sind einander widersprechende Modelle nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Trotzdem können sie zu einem besseren Verständnis der Materie beitragen. Zum Beispiel die psychoanalytische Unterscheidung von Ich, Es und Überich ist so ein Modell. Es macht Sinn, aber es genügt nicht den strengen Anforderungen von Verifizierbarkeit und Falsifizierbarkeit.
 
Außerhalb wissenschaftlicher Diskurse schließlich führt die Anwendung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten eher zu Trugschlüssen, da man oft in ungenauen Analogien und Metaphern denkt und die Wörter der Alltagssprache nicht genau definiert sind. Das ist kein methodischer Mangel, sondern unsere einzige Möglichkeit, uns in einer komplexen Wirklichkeit zu verständigen. Wir scheuen uns auch nicht, objektiv falsche Aussagen zu treffen, wenn sie in einem kommunikativen Zusammenhang Sinn ergeben; so sagen wir zum Beispiel entgegen aller naturwissenschaftlichen Evidenz, dass die Sonne aufgeht. Hier reicht uns der subjektive Eindruck.
 
Wenn ich nun sage, dass ich im kreativen Prozess die Kontrolle an eine höhere Macht abgebe, so treffe ich damit keine Aussage im naturwissenschaftlichen Sinn, sondern bediene mich einer alltagssprachlichen Metapher. Ich könnte stattdessen auch sagen, dass ich meine Gehirnaktivitäten vom präfrontalen Cortex in andere Gehirnregionen verlagere, das wäre naturwissenschaftlich gesehen korrekter, aber zur Verständigung spreche ich lieber von einer höheren Macht, auch wenn diese Aussage so falsch ist wie die, dass die Sonne aufgeht.
 
Was nun mein Verhältnis zu Religionen und metaphysischen Erklärungen angeht: Ich glaube, dass sie von einer naturwissenschaftlichen Perspektive aus wenig Sinn ergeben, dass in vielen religiösen Texten dennoch wertvolle menschliche Erfahrungen wiedergegeben werden. Um diese Erfahrungen nachzuvollziehen muss ich mich auf ihre Sprache und Bilder einlassen. Wenn ich nur nach ihren Irrtümern suche, laufe ich Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

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