Die Götter Nietzsches

 

Was ist Glaube? Was ist Unglaube? Sind das wirklich sich ausschließende Gegensätze? Ich empfinde beide eher als eine Pendelbewegung meines Geistes, als ein Einatmen und Ausatmen? Ich erinnere mich noch gut, wie ich in einer Zeit, als ich ganz stark zum Atheismus neigte, Nietzsche las: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Ausgerechnet Nietzsche, den ich doch als Bruder im Unglauben sah, infizierte mich mit der Begeisterung für gleich zwei Götter: Apollo und Dionysos. Plötzlich sah ich mich in den Widerstreit dieser beiden Gottheiten hineingezogen. Der Konflikt zwischen dem apollinisch Rationalen und dem dionysisch Rauschhaften, Ekstatischen umschrieb genau das Spannungsfeld in dem ich mich befand. Ich wollte beides und fühlte mich abwechselnd in beiden Zuständen zuhause. Glaubte ich jetzt also an Apollo und Dionysos? Nicht wirklich, aber ich sah beide als wunderbare Modelle zur Veranschaulichung psychologischer Gegebenheiten, und plötzlich bekam der griechische Götterhimmel für mich einen tieferen Sinn.

Damit aber war in meinem Denken ein Damm gebrochen. So wie die antiken Götter helfen konnten, manches besser zu beschreiben, so konnte ich vielleicht auch in den gegenwärtigen Religionen wertvolle Anregungen zur Selbsterkenntnis finden, ohne ihre Dogmen zu übernehmen. Die Frage, ob es einen Gott gibt oder nicht, barg womöglich die Gefahr, von anderen wesentlichen Fragen abzulenken: Können ein religiöses Vokabular und eine religiöse Bilderwelt dazu dienen, authentische menschliche Erfahrungen weiterzugeben? Kann der Begriff „Gott“ zum Beispiel in der Begriffswelt eines mittelalterlichen Mystikers eine sinnvolle Funktion übernehmen, um etwas auszudrücken, das man heutzutage eher in ein psychologisches oder neurobiologisches Vokabular kleiden würde? 
 
Wäre statt des Streits darüber, ob Theisten oder Atheisten recht haben nicht die Frage viel ergiebiger, wie die jeweiligen Weltbilder dazu verwendet werden, bestimmte Erfahrungen zu vermitteln und inwieweit das Vokabular der einen in das der anderen übersetzbar ist?

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