Shutdown und Langeweile

Shutdown, Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbot. Da sitzen wir nun in unserer Wohnung. Und niemand kommt uns besuchen. Eine ungewohnte Situation. Wenn normale Zeiten wären, würde ich mich jetzt wieder regelmäßig mit einem Freund treffen, um Gitarre zu spielen. Schließlich wollten wir ja im Sommer zusammen Straßenmusik machen. Da wäre jetzt die Zeit, wieder anzufangen zu üben. Und am Wochenende käme wie gewohnt eine Freundin unserer WG vorbei, um zusammen zu kochen. Überhaupt haben wir normalerweise viel Besuch. Oder sind unterwegs und treffen Leute. Aber jetzt: Leerlauf. Nicht, dass ich sonst ständig im Stress wäre. Schließlich rede ich schon seit Jahrzehnten davon, wie wichtig Muße ist, und entsprechend lebe ich auch. Ich, der ich normalerweise immer betone, dass Zeit und nicht Geld der wahre Reichtum ist, habe jetzt Zeit im Überfluss – und empfinde das erst einmal nicht unbedingt als Bereicherung. Zum Glück ist das Wetter frühlingshaft. Da kann man schon mal ein paar Stunden auf dem Balkon sitzen, die Kirschblüten bewundern und den Vögeln und Eichhörnchen zuschauen. Aber da ist immer noch viel Zeit übrig. Martina und ich tanzen jetzt wieder viel Tango. Jeden Tag eine halbe Stunde im Flur. Das hatten wir eine Zeit lang vernachlässigt. Ich bin auch mehr online als sonst. Schon seit Jahren will ich zusammen mit einem Freund mein Buch über das Nutzlose ins Englische übersetzten. Jetzt skypen wir oft miteinander und kommen gut voran. Auch er hat ja jetzt viel Zeit. Er arbeitet als Englischlehrer in Saudi Arabien, aber auch dort fällt der Unterricht wegen der Corona-Pandemie aus, und er darf den Compound, in dem er wohnt, nicht mehr verlassen. Verschiedene Länder – gleiche Situation. Zufällig haben wir jetzt gerade die Stelle des Buches übersetzt, wo es um Langeweile geht:

"Richtig quälende Langeweile kannte ich vor allem als Kind. Nichts war öder als die endlosen Sonntagnachmittage, wenn irgendwelche Bekannten meiner Eltern zu Besuch kamen und wir eine gefühlte Ewigkeit am Kaffeetisch saßen. Auch beim Lateinunterricht in der ersten Stunde wollte der Zeiger der Uhr einfach nicht weiter vorrücken. Später in der Autofabrik zählte ich die Minuten bis Feierabend, rechnete ständig aus, wie viel Prozent des Arbeitstages ich schon hinter mir hatte.

Die Langeweile, die ich später erlebte, war im Vergleich dazu harmlos. Ich hatte ein Mittel gefunden, sie erträglicher zu machen: Selbstbeobachtung. Indem ich meine Stimmungen studierte, wurde aus der Langeweile ein interessantes Forschungsobjekt. Meistens ging sie einher mit einem plötzlichen Überdruss an allem, was mich gerade noch begeistert hatte. Selbst das Malen konnte sie mir verleiden. Ich spürte ihr nach, wie sie ihren Zenit überschritt und wie sie sich schließlich auflöste, nicht ohne mir gelegentlich ein wertvolles Geschenk zurückzulassen: eine neue Einsicht oder die Idee für ein neues Projekt. Ich hatte auch gelernt, wie ich ihr entfliehen konnte, wenn sie zu drückend wurde. Im Notfall konnte ich immer an meinen vierundsechzig Künsten arbeiten und mir Dinge beibringen, die ich schon immer gerne können wollte.

Ich schlenderte mit dem Baumbestimmungsbuch durch die Parks der Umgebung, übte Blues-Riffs auf der Gitarre, lernte neue Tanzschritte oder sah im Fernsehen Filme in einer Sprache, die ich lernen wollte. So gelang es mir, die Langeweile allmählich zu zähmen."*

Ok, denke ich mir. Das wird wohl wieder meine Strategie für die nächsten Wochen, Monate, oder wie lange auch immer die Pandemie dauern wird.

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*Wie ich lernte das Nutzlose zu lieben (S.95f). Was es mit den erwähnten 64 Künsten auf sich hat, das erfährt man im vorhergehenden Post.
















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