Wider den Bekenntniszwang

Eine Anekdote über den Physiker und Nobelpreisträger Niels Bohr berichtet von einem Hufeisen, das über seiner Tür hing. Ein Kollege sprach ihn darauf an. Ob er denn tatsächlich an so etwas glaube? „Nein, natürlich nicht“, soll Bohr geantwortet haben, „aber man hat mir versichert, dass es auch wirkt, wenn man nicht daran glaubt."
Ich las diese Anekdote in der Zeit, als ich an einer chinesischen Universität unterrichtete. Viele der Studierenden sahen sich selbst, ganz im Sinne der kommunistischen Erziehung, die sie erfahren hatten, als Atheisten. Das hinderte manche von ihnen nicht daran, vor einer wichtigen Prüfung in den Tempel zu gehen und Räucherstäbchen abzubrennen.

So wurde mir klar, dass nicht nur ich solche Widersprüche kenne. Egal für oder gegen welchen Glauben ich mich bewusst entscheide, in meinem Unbewussten wirkt auch das weiter, gegen das ich mich entschieden habe.
Ich stamme aus einer katholischen Familie und war als Kind sehr fromm. Als Jugendlicher verwandelte ich mich in einen glühenden Atheisten. Mein Atheismus nahm schnell missionarische Züge an. Vielleicht gerade deshalb, weil ich den Katholiken in mir nicht wirklich losgeworden war, der mir für meinen Abfall vom Glauben immer noch mit Höllenqualen drohte. Meine Vehemenz sollte ihn zum Verstummen bringe.

Jahre später entdeckte ich als Künstler die Macht der Intuition. Wie viele Künstler hatte ich das Gefühl, dass nicht ich male, sondern dass ES malt. Was immer ES auch sein mochte, es schien größer und intelligenter zu sein als ich. Diese Erfahrung brachte schließlich auch mein atheistisches Weltbild ins Wanken.

Aber auch mein Atheismus war nicht plötzlich verschwunden. Einmal Atheist, immer Atheist. Einmal Katholik, immer Katholik. Einmal Buddhist, immer Buddhist. Natürlich bekennt man sich nicht zu allem gleichzeitig, neigt bald mehr zu dem einen, bald mehr zu dem andern. Man mag sich bewusst entscheiden, aber im Unbewussten gibt es kein striktes Entweder-oder. Dort bleiben unterschiedliche Vorstellungswelten, die jeweils unterschiedliche Wege eröffnen oder verschließen, und je nach den Umständen wieder zum Vorschein kommen.

Der Atheismus ist ein wunderbares Mittel gegen die Enge religiöser Dogmatik. Wir verdanken ihm viel Freiheit. Aber die wunderbare Musik Bachs wäre wohl nicht entstanden ohne seinen tiefen christlichen Glauben. Und dass wir mit Yoga unserem Körper etwas Gutes tun können, verdanken wir dem Hinduismus.

Ich möchte mich nicht für eine Seite zu entscheiden. Das würde ich als Einengung empfinden. Ich gehöre keiner Glaubensgemeinschaft an. Mein Bewusstsein ist ein Ort, an dem der Dialog zwischen den unterschiedlichsten Formen von Glauben und Unglauben stattfindet. Ich sehe keinen Grund, dass es dabei Gewinner und Verlierer geben sollte. Der Dialog soll nicht verstummen, denn er ist produktiv. So wie es ist, fühlt es sich gut an. Warum sollte ich mir da eine bestimmte Identität verordnen.

Lieber als in einer Welt fanatischer Abgrenzungen lebe ich in einer Welt, in der Christen Yoga machen und Atheisten Horoskope lesen.



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